Storchenbabys im Zoo Zürich

Quelle: NZZ vom 16.5.2019

 

Mehr freilebende Störche als je zuvor nisten im Zoo – nass-kühles Wetter ist aber eine Gefahr für Jungtiere
Urs Bühler

Dass der Storch die Menschenkinder bringt, gilt als wissenschaftlich nicht gesicherte Erkenntnis. Viele andere Aspekte seines gestelzten Daseins jedoch sind gut erforscht, etwa seine Treue. Sie gilt allerdings weniger der Partnerschaft, die meist nur eine Saison lang hält, als dem Nistplatz: In den Zoo Zürich zum Beispiel kehrt seit 1992 stets ein Weibchen zum Brüten zurück. Es war 1990 hier geschlüpft – und gehörte somit dem ersten Jahrgang an, den der Zoo dann integral in die Freiheit entliess.
Treff der Paarungswilligen
Seither hat sich der Zoo zum immer beliebteren Treffpunkt paarungswilliger Störche entwickelt, wobei er die freilebenden Tieren willkommen heisst, indem er geeignete Nestunterlagen zur Verfügung stellt: 21 Horste sind heuer besetzt, drei mehr als im letzten Jahr und so viele wie nie zuvor. Das hat Kurator Robert Zingg am Mittwoch ausgeführt, während die Kalte Sophie als Nachhut der Eisheiligen den Besuchern frostig ins Ohr hauchte. Das liess einen vor allem um das Wohl der Küken bangen. Viele von ihnen sind im Stadium, in dem nass-kaltes Wetter ihnen zum Verhängnis werden kann: nicht mehr klein genug, um von den Eltern bedeckt zu werden, aber auch noch nicht so gross, dass sie die Körpertemperatur allein halten können. 2013 etwa fielen fast alle der 26 geschlüpften Jungstörche gegen Ende Mai anhaltenden Regengüssen zum Opfer. Nur eines überlebte.
Die Population ist allerdings hierzulande so stark, dass ihr solche Schwankungen kaum nachhaltig zusetzen. Dabei war der Weissstorch vor siebzig Jahren ausgestorben. Dann lancierte der Oltner Turnlehrer Max Bloesch in Altreu sein Wiederansiedlungsprojekt für diese Tiere mit einer Spannweite von gegen zwei Metern, die zu den grössten Vögeln Mitteleuropas zählen. Heute ist der Bestand sogar deutlich höher als zur vorletzten Jahrhundertwende. Die Gesellschaft Storch Schweiz, die sich für das Wohl der Spezies einsetzt, zählte 2018 landesweit über 500 Horstpaare mit gut tausend geschlüpften Jungen.
Im Kanton Zürich sind von Höri über Mönchaltorf bis Meilen gegen zwanzig Nistplätze verzeichnet, einer in einem Privatgarten direkt neben dem Zoo. Letzterer bietet bei der Kamel-Anlage einen besonders guten Einblick in einen Horst, aus leicht erhöhter Position. Die Küken, einem Ei kaum grösser als ein Entenei entschlüpft, haben schon ein stattliches Format erreicht. Sie sind aber noch flauschige Bällchen im Vergleich zu den Elterntieren, die ihre Hälse beim Reinigungsritual schütteln wie wild gewordene Flaschenputzer.
Wer den Blick nach oben richtet, sieht mit etwas Glück eines der Tiere beim Anflug in charakteristischer Körperhaltung, die mitunter eine Bruchlandung befürchten lässt. Etwas früher im Jahr sieht man ganze Schwärme hoch oben über das Gelände fliegen, wie Zoodirektor Alex Rübel ausführt. Einige aus der Masse tauchen dann nach geheimnisvollen Regeln ab, um hier zu nisten. Oft kommen die Männchen zuerst an, um mit wichtigen Mienen die Horste zu reservieren fast wie Männer die Liegestühle im Strandhotel. Ihr Imponiergehabe gegenüber Konkurrenten umfasst indes kein Muskelspiel, sondern das charakteristische Klappern mit dem langen Schnabel, das auch der Begrüssung der Nestpartnerin dienen kann.
Zur späteren Identifizierung werden die Jungtiere vor dem Flüggewerden nach Möglichkeit mit gross beschrifteten Ringen versehen, wobei städtische Rettungseinheiten dem Zoo meist mit einer Drehleiter behilflich sind. Aufgrund der auch anderswo praktizierten Kennzeichnung ist die Herkunft der meisten zurzeit nistenden Exemplare bekannt. Sechs sind zum Beispiel aus Deutschland zugeflogen, drei aus dem Basler Zolli, vielleicht ja aufgeschreckt durch das Getöse ums geplante Ozeanium.
Im Spätsommer werden die Jung- und die Alttiere getrennt ihren Flug in den Süden starten, nicht etwa auf der Suche nach Sonne und Wärme, sondern nach Nahrung. Ihr Weg nach Afrika führt über zwei Hauptrouten, eine über Gibraltar und eine über den Bosporus, wobei sich ihr Zugverhalten gewandelt hat. Aufschluss darüber liefern sogenannte Senderstörche, keine SRF-Maskottchen, sondern mit Satelitensendern ausgestattete Tiere im Rahmen eines Projekts von «Storch Schweiz». So entstandene Zugkarten lassen die Tendenz erkennen, dass ein grosser Teil der Population nicht mehr in Afrika, sondern in Südspanien überwintert, wo auf grossen Mülldeponien nach Essbarem gesucht wird.
Ein anrührendes Paar
Den Bogen zum Thema Familienplanung schliessen für uns zwei handicapierte Störche, die einander im Zoo gefunden haben: Das Männchen kam 2006 coupiert aus Tschechien, das hier geborene Weibchen wurde durch einen Unfall seiner Flugfähigkeit beraubt. Seit Jahren bemühen sich die zwei «Bodenstörche», durch ihr Schicksal zusammengeschweisst, vergeblich um Nachwuchs. Heuer aber sind in ihrem Nest zwei Junge geschlüpft. Die Fachleute nehmen an, es handle sich um eine Art Kuckuckseier. Man kann es auch anders ausdrücken: Vielleicht hat hier einfach ein Storchenpaar dem anderen die Kinder gebracht?