Ein Schulweg für Unerschrockene – eine Geschichte aus dem Urner Schächental

  • Post author:
  • Post category:Schweiz

Zweimal pro Tag müssen Louie, Wendy und Dario im Urner Schächental eine Strecke von 2 Kilometern und 700 Höhenmetern bewältigen

Stefan Müller, NZZ vom 22.12.2020

Jäh bricht das fröhliche Lachen der Kinder ab. Ein dumpfes Grollen schwellt an, der Boden zittert. Die Kinder recken sofort die Köpfe zur Quelle des unheimlichen Geräusches. Ein paar Meter oberhalb von ihnen hat sich ein Schneebrett gelöst und donnert in die Tiefe. Den kleinen Louie erfasst es an den Füssen und schleift ihn ein paar Meter mit. Nach ein paar Sekunden endet der Spuk. Louie hat Glück. Er ist nur etwas benommen. Die beiden grösseren Geschwister Dario und Wendy buddeln ihn rasch aus den Schneemassen – Louie lächelt zaghaft. Und schon hocken alle wieder auf ihren «Fidlirutschern», und die rasante Talfahrt geht unbeirrt weiter.

Langweilig wird es den drei Geschwistern Louie (6), Wendy (8) und Dario (10) auf dem über zwei Kilometer langen Schulweg nie. Doch so abenteuerlich wie heute ist der einstündige Schulweg nicht immer, von hoch oben von ihrem Bauernhof auf über 1200 Metern steil hinab zur Urner Talgemeinde Bürglen. «So etwas habe ich noch nie erlebt», gibt Dario zu, der Fünftklässler, den wenig aus der Ruhe zu bringen scheint. Viel Abwechslung bietet der Schulweg aber auch so. Es gibt viele «coole» Themen, die die Kinder unter sich besprechen können, einmal ohne Erwachsene. Im Sommer locken leckere Beeren am Wegrand, im Herbst lässt sich lustig im Laub herumtollen. Rehe, Füchse oder Eichhörnli trifft man das ganze Jahr. «Einmal stob ein ganzes Hirschrudel direkt an unserem Haus vorbei», entsinnt sich Dario. Am lustigsten aber ist es im Winter, wenn’s Schnee hat. Doch der lässt sich immer seltener blicken. Zu oft bläst der Föhn die engen Urner Talschluchten hinunter.

Eine halbe Stunde früher sitzen Kinder und Eltern noch gemütlich am Frühstückstisch. «Wenn man hier oben lebt, macht man sich nicht ständig Gedanken. Das ist Alltag», antwortet die Mutter, Vreni Marti, auf die Frage, ob sie sich nie wegen des Schulweges sorge. Die 42-Jährige bewirtschaftet zusammen mit ihrem Mann den zehn Hektaren grossen Bauernhof im «Waldi» oben. Wenn es aber beispielsweise Anfang Winter viel Schnee aufs Mal gebe, müsse man schon vorsichtig sein. Da würden die Kinder etwa mit ihrem Mann oder einem Nachbarn mit dem Auto hinunterfahren. Ein Whatsapp-Chat hilft überdies, den Schulweg mit den Kindern der Nachbarshöfe zu koordinieren. «Bei ganz schlechter Witterung fährt jemand von uns Eltern», sagt Vreni Marti und giesst den Gästen dampfenden Kaffee in ihre Kacheln, bevor sie um sieben Uhr zum Aufbruch mahnt.

Quietschen vor Freude

Den Auftakt machen immer die Kinder der Familie Marti, weil sie am höchsten wohnen. Auch heute Freitag, an einem kalten Dezembermorgen. Die drei Kinder treten aus der warmen Bauernstube hinaus in die klirrende Kälte, dick eingemummelt, mit Stirnlampen und Plastikrutschern ausgerüstet. Über ihnen ein klarer Sternenhimmel, der fast ein Meter hohe Schnee schimmert blass, am Horizont erheben sich schwarze Felszacken in das zarte Morgengrauen. Man hört das Knirschen des Schnees unter den Gummistiefeln, die Reflektoren an Jacken und Hosen leuchten gespenstisch. Nicht für die Kinder, die munter plappernd die Hofeinfahrt hinausmarschieren. Als sie das gepflügte Bergsträsschen erreicht haben, schliesst sich den Martis bereits der erste Nachbarsbueb an. Jetzt hüpfen sie einer nach dem anderen auf ihren Plastikrutscher – und los gehts. Nicht den Serpentinen der Strasse entlang, sondern den kürzesten Weg, gerade hinunter. Die Kinder quietschen vor Freude.

Jedes zehnte Schulkind hat in der Gemeinde Bürglen, das knapp 4000 Einwohner zählt, einen Schulweg von mehr als einer Stunde pro Tag. Das überrascht nicht, denn die Hälfte der weitläufigen Gemeinde besteht aus Berggebiet. Die meisten gehen zu Fuss zur Schule, zum Teil auch mit Bergbahnen oder dem Postauto. «Damit möglichst viele Kinder zu Hause Mittagessen können, bietet die Gemeinde zu Mittag einen Schulbus an», erklärt Schulleiter Jürg Janett. Für diejenigen, die sehr abgelegen wohnen, gibt es einen grossen Mittagstisch, den auch die Kinder der Familie Marti nutzen.

Der Schulleiter schüttelt nur den Kopf über die Frage, ob solch lange Schulwege zumutbar seien. «Die Eltern in unserer Gemeinde sind sehr pragmatisch», befindet er, zudem seien die Schulwege grösstenteils sicher. Allerdings könne es Probleme geben bei viel Neuschnee oder starkem Föhnsturm. Da würden etwa die Seilbahnen nicht fahren. Manchmal kämen auch die Kinder wegen grosser Schneemengen verspätet oder gar nicht zur Schule.

Wenn die Seilbahnen ihren Dienst einstellen, sind auch die Marti-Kinder betroffen – weil sie auf dem Heimweg ebenfalls eine Seilbahn nehmen, die sich ungefähr einen Kilometer talaufwärts in die Höhe des «Waldi»-Hofs hinaufschwingt.

Inzwischen haben die Kinder die Hälfte des Schulwegs und den Schrecken mit dem Schneebrett hinter sich. Sie sind nun bereits zu sechst. Unten im Tal funkelt in der Morgendämmerung das Lichtermeer von Bürglen und Altdorf. Wendy ist ganz aufgeregt: «Jetzt kommt das Loch und danach der Jump», freut sie sich und springt auf den Rutscher. Und tatsächlich, nach ein paar Metern macht es «plumps», und sie landet sanft in einem Schneeloch. Sie lacht fröhlich und fährt gleich weiter. Kurz danach fliegt sie über eine Mauer direkt auf die Fahrbahn. Ein Riesengaudi!

Mit den Rutschern kommen die Kinder natürlich schneller vorwärts, ohne Schnee dauert der Schulweg länger. «Dennoch kommen die Kinder kaum je zu spät in die Schule», stellt Vreni Marti fest. Die Grossen würden auf die Kleinen aufpassen. Nur wenige Male, erinnert sie sich schmunzelnd, als Dario noch im Kindergarten war, reichte es nicht ganz: Er habe eben «Tierli» zugeschaut.

Konditionell gut beieinander

Ein Nebeneffekt des langen Schulwegs ist, dass die Kinder eine gute Kondition haben. Das beobachten die Eltern immer, wenn sie sommers «z’berg» gehen. «Da rennen sie uns um die Ohren», entrüstet sich Vreni Marti gespielt. Und in der Schule gehörten sie stets zu den Schnellsten. Dennoch gibt es Momente, in denen sie es lieber bequemer hätten. So frage Wendy gelegentlich, ob sie nicht mit dem Auto «mitreiten» dürfe.

Die Eltern erwarten deshalb nicht, dass die Kinder auf dem Hof viel mithelfen. «Priorität hat die Schule», sagt Vreni Marti. Einzig beim Heuen während der Sommerferien zählt jede Hand, die zupackt. Es bleibt jedoch neben Schule und Hof genügend Zeit zum Spielen. «Wir haben rund um den Hof einen idealen Abenteuerspielplatz – einen riesigen Wald», sagt die Bauersfrau und lacht.

Die Kinder stehen jetzt vor dem «Hexenwäldchen». Sie klemmen die Rutscher unter die Arme. Der schmale Waldpfad durch den hohen Schnee führt über knorrige Wurzeln und Löcher, bis zu einem steilen Bord hinunter auf die vereiste Strasse. Hier kommen die Rutscher wieder zum Einsatz. Plötzlich ruft der kleine Louie: «Mein Rutscher ist kaputt!», und er hält die zwei Plastikhälften verständnislos in die Luft. Das macht allerdings nichts, denn das Schulhaus unten im Dorf ist bereits in Sicht, der Talboden erreicht. Die Schulglocke schrillt. Louie, Wendy und Dario sowie fünf weitere «Bergkinder» stehen vor dem Schulhaus. Zusammen mit vielen anderen Schulkindern stürmen sie ins Gebäude. Erfüllt von vielen Erlebnissen eines abwechslungsreichen Schulweges.

Aus dem NZZ-E-Paper vom 22.12.2020

Urner Schächental